Die Preiswahrnehmung der Konsumenten spielt eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Preisstrategien im Handel. Insbesondere in gesättigten Märkten wie Deutschland, wo die Verbraucher zunehmend preisbewusst agieren, gewinnt dieses Thema an Bedeutung. Der anhaltende Wandel in den Einkaufsgewohnheiten, getrieben durch die Digitalisierung und die Globalisierung des Handels, hat die Dynamik des Preisbewusstseins erheblich beeinflusst.
Ein markantes Beispiel hierfür ist das Aufkommen internationaler E-Commerce-Giganten wie Temu und Shein, deren Geschäftsmodelle auf extrem wettbewerbsfähigen Preisen und einer breiten Produktpalette beruhen. Beide Marken sind bekannt für ihre aggressiven Preisstrategien, die nicht nur auf günstigere Produktion und Logistik abzielen, sondern auch auf die Optimierung des digitalen Kundenerlebnisses, etwa durch personalisierte Angebote und Rabattsysteme. Ihre wachsende Präsenz im deutschen Markt stellt traditionelle Anbieter vor neue Herausforderungen und verändert gleichzeitig die Erwartungen der Konsumenten an Preise und Preis-Leistungs-Verhältnisse.
Die vorliegende Untersuchung zielt darauf ab, die Auswirkungen dieser Marken auf das Preisbewusstsein deutscher Verbraucher zu analysieren. Dabei wird untersucht, wie Konsumenten diese Anbieter wahrnehmen und inwieweit deren Preisstrategien das Verhalten und die Entscheidungsfindung der Verbraucher beeinflussen. Die Studie beleuchtet zudem, ob und wie Temu und Shein die Referenzpreise und Qualitätsansprüche der Kunden verschieben und welche langfristigen Effekte dies auf den deutschen Markt haben könnte.
Mit dieser Analyse wird ein Beitrag zur Diskussion über die Rolle disruptiver Geschäftsmodelle im E-Commerce und deren Einfluss auf etablierte Marktstrukturen geleistet. Die Ergebnisse sollen sowohl Unternehmen als auch Marktanalysten und Verbraucherschutzorganisationen dabei unterstützen, die neuen Dynamiken im deutschen Konsumverhalten besser zu verstehen und darauf zu reagieren.
Die Analyse der Preiswahrnehmung und des Preisbewusstseins von Konsumenten stützt sich auf mehrere fundierten theoretischen Ansätze, die Einblicke in die Mechanismen und psychologischen Prozesse hinter der Preiswahrnehmung bieten. In der folgenden Darstellung werden die Referenzpreistheorie, die Theorie des wahrgenommenen Werts, die Preisfairnesstheorie sowie die Behavioral Pricing Theorie detailliert und unabhängig von einer spezifischen Methodik wie dem Van Westendorp Price Sensitivity Meter hergeleitet.
Die Referenzpreistheorie (Reference Price Theory) basiert auf der Annahme, dass Konsumenten Preise nicht isoliert bewerten, sondern stets im Kontext eines mentalen Referenzpunktes. Dieser Referenzpunkt ergibt sich aus verschiedenen Quellen:
Die Referenzpreistheorie erklärt, warum Marken wie Temu und Shein mit extrem niedrigen Preisen bestehende Referenzpunkte im Markt verschieben können. Ein Preis, der zuvor als günstig wahrgenommen wurde, könnte durch die Einführung solcher Anbieter als teuer gelten. Dies führt zu einer Anpassung des Konsumverhaltens und möglicherweise auch zu einer langfristigen Senkung der Preisbereitschaft in betroffenen Produktkategorien.
Die Theorie des wahrgenommenen Werts (Perceived Value Theory) geht davon aus, dass Konsumenten Preise im Verhältnis zum erwarteten Nutzen eines Produkts oder einer Dienstleistung bewerten. Der wahrgenommene Nutzen setzt sich aus zwei Hauptdimensionen zusammen:
Marken wie Temu und Shein maximieren den wahrgenommenen Wert, indem sie niedrige Preise mit einer scheinbar hohen Vielfalt und Verfügbarkeit kombinieren. Dadurch entsteht bei Konsumenten das Gefühl, ein besonders gutes Angebot wahrzunehmen, auch wenn die tatsächliche Qualität möglicherweise nicht den Erwartungen entspricht. Die Theorie hilft zu verstehen, warum Konsumenten bereit sind, Kompromisse bei der Produktqualität einzugehen, wenn sie einen signifikanten finanziellen Vorteil wahrnehmen.
Die Preisfairnesstheorie (Price Fairness Theory) befasst sich mit der subjektiven Wahrnehmung der Gerechtigkeit eines Preises. Ein Preis wird als fair wahrgenommen, wenn er den Erwartungen der Konsumenten entspricht und im Vergleich zu Alternativen nicht als unverhältnismäßig hoch oder niedrig erscheint.
Temu und Shein beeinflussen die Preisfairnesswahrnehmung, indem sie Preise setzen, die Konsumenten als deutlich unter den Marktpreisen empfinden. Dies kann dazu führen, dass etablierte Anbieter als überteuert wahrgenommen werden, selbst wenn sie objektiv höhere Qualitäts- oder Servicestandards bieten. Die Preisfairnesstheorie liefert somit eine Erklärung, wie diese Marken durch ihre Preispolitik die Konsumentenwahrnehmung nachhaltig verändern können.
Die Behavioral Pricing Theorie (Verhaltensbasierte Preistheorie) untersucht, wie psychologische und emotionale Faktoren die Preiswahrnehmung und Kaufentscheidungen beeinflussen. Dabei spielen folgende Aspekte eine zentrale Rolle:
Temu und Shein nutzen gezielt verhaltenspsychologische Prinzipien, etwa durch zeitlich begrenzte Angebote, personalisierte Rabatte und die Betonung von Einsparungen. Dadurch werden Kaufimpulse verstärkt und Konsumenten zu spontanen Entscheidungen bewegt. Die Behavioral Pricing Theorie verdeutlicht, wie wichtig psychologische Faktoren bei der Preiswahrnehmung sind und wie sie von solchen Marken strategisch eingesetzt werden.
Die vier dargestellten Theorien bieten ein umfassendes Verständnis für die Mechanismen, die hinter der Preiswahrnehmung und Preissensibilität von Konsumenten stehen. Temu und Shein beeinflussen die Preiswahrnehmung deutscher Verbraucher durch eine Kombination aus Referenzpreisverschiebungen, maximiertem wahrgenommenen Wert, geänderten Fairnessvorstellungen und der Nutzung psychologischer Prinzipien. Diese theoretischen Ansätze liefern die Grundlage für eine fundierte Analyse der Effekte, die diese Marken auf das Konsumverhalten und die Marktstruktur ausüben.
Das vorliegende Untersuchungsdesign zielt darauf ab, die Veränderungen in der Preiswahrnehmung deutscher Konsumenten durch die Strategien der Marken Temu und Shein systematisch zu analysieren. Hierzu werden auf Basis etablierter theoretischer Grundlagen Hypothesen formuliert, die in einer empirischen Untersuchung überprüft werden. Der Fokus liegt auf den Auswirkungen der Preisstrategien dieser Anbieter auf das Preisbewusstsein, das Kaufverhalten und die Marktstruktur.
Die Untersuchung konzentriert sich auf zwei zentrale Fragestellungen:
Die Untersuchung berücksichtigt auch das Phänomen, dass extrem niedrige Preise von Konsumenten nicht nur als attraktiv wahrgenommen werden, sondern auch Skepsis hervorrufen können. Preise, die als „zu billig“ gelten, könnten die Bereitschaft fördern, höhere Preise für Qualitätsprodukte zu zahlen.
Die Untersuchung analysiert 10 relevante Produktkategorien, die sowohl bei Temu und Shein als auch bei deutschen Anbietern erhältlich sind. Ziel war es, die Unterschiede in der Preiswahrnehmung, Preisakzeptanz und den Kaufentscheidungen der Konsumenten zu identifizieren und die Hypothesen im Kontext dieser Kategorien zu diskutieren. Die Preisdaten basieren auf realistischen, ungeraden Preisen und wurden auf zwei Dezimalstellen gerundet.
Die untersuchten Kategorien umfassen ein breites Spektrum an Konsumgütern, von Bekleidung über Haushaltswaren bis hin zu Elektronik. Die zentralen Preispunkte für Temu und Shein sowie deutsche Anbieter werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst:
Die Analyse der Preisstrategien von Temu und Shein im Vergleich zu deutschen Anbietern bietet tiefe Einblicke in die Dynamik der Preiswahrnehmung und deren Implikationen für verschiedene Produktkategorien. Die Ergebnisse zeigen klare Muster, die in allen Hypothesen deutlich werden, und legen nahe, dass die Strategien von Temu und Shein nicht nur die Konsumentenwahrnehmung, sondern auch die Marktstrukturen nachhaltig beeinflussen.
Die signifikant niedrigeren optimalen Preispunkte (OPP) bei Temu und Shein senken die Referenzpreise der Konsumenten nachhaltig. Dies wird besonders in Kategorien wie Damenbekleidung deutlich, wo der OPP für Temu und Shein bei 9,24 € liegt, während deutsche Anbieter 19,14 € verlangen. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Elektronikzubehör (Temu/Shein OPP: 5,79 €; deutsche Anbieter OPP: 18,24 €).
Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die Preisstrategien von Temu und Shein bestehende Normen unterlaufen und neue Standards etablieren. Verbraucher gewöhnen sich an die niedrigeren Preisspannen, wodurch Produkte von deutschen Anbietern, selbst wenn sie qualitativ hochwertiger sind, als überteuert erscheinen können. In Kategorien wie Haushaltsgeräten, bei denen deutsche Anbieter traditionell höhere Referenzpreise aufrechterhalten konnten, könnten diese Strategien besonders disruptive Auswirkungen haben.
Die Daten zeigen, dass Konsumenten das Preis-Leistungs-Verhältnis von Temu und Shein als überdurchschnittlich wahrnehmen, obwohl deren Produkte möglicherweise eine geringere objektive Qualität aufweisen. Beispielsweise wird der PME für Bettwaren bei deutschen Anbietern mit 74,99 € bewertet, während Temu und Shein Produkte für 29,19 € anbieten.
Dieses Phänomen wird durch die Theorie des wahrgenommenen Werts gestützt: Konsumenten nehmen Produkte nicht nur in Bezug auf die Qualität, sondern auch in Relation zum Preis wahr. In niedrigpreisigen Kategorien wie Küchenutensilien (Temu/Shein PME: 24,69 €; deutsche Anbieter PME: 69,94 €) und Spielzeug (Temu/Shein PME: 23,79 €; deutsche Anbieter PME: 48,99 €) könnte dies die Wahrnehmung weiter verstärken, dass die günstigeren Alternativen ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis bieten.
Die Wahrnehmung von Preisfairness wird durch die niedrigeren Preise von Temu und Shein erheblich beeinflusst. Kategorien wie Sportbekleidung verdeutlichen dies: Während deutsche Anbieter 25,19 € als optimalen Preis ansetzen, liegt der OPP bei Temu und Shein bei 6,59 €. Dies führt dazu, dass höhere Preise deutscher Anbieter als unverhältnismäßig wahrgenommen werden, insbesondere in Kategorien, in denen der wahrgenommene Nutzen nicht proportional zum Preisunterschied zu sein scheint.
In hochwertigen Kategorien wie Haushaltsgeräten bleibt jedoch eine Nische für Anbieter bestehen, die ihre höheren Preise durch Markenimage und Qualität rechtfertigen können.
Die extrem niedrigen Preise von Temu und Shein fördern impulsive Käufe, insbesondere in Kategorien mit geringem Involvement wie Küchenutensilien oder Elektronikzubehör. Konsumenten sehen diese Produkte als geringes Risiko an, da der finanzielle Verlust im Falle einer schlechten Kaufentscheidung minimal ist.
Im Gegensatz dazu verlangen deutsche Anbieter in denselben Kategorien deutlich höhere Preise, was zu einer bewussteren Kaufentscheidung führt. Dies könnte erklären, warum deutsche Anbieter in diesen Kategorien Marktanteile an günstigere Alternativen verlieren.
Die Preisstrategien von Temu und Shein führen zu einer deutlichen Marktpolarisation: Preissensitive Konsumenten wechseln zu den günstigeren Alternativen, während qualitätsbewusste Käufer weiterhin Produkte von deutschen Anbietern bevorzugen. Diese Dynamik ist besonders in langlebigen Kategorien wie Schuhen und Haushaltsgeräten sichtbar, wo Qualität und Langlebigkeit eine größere Rolle spielen.
Diese Polarisierung könnte langfristig dazu führen, dass deutsche Anbieter entweder ihre Preise senken oder ihre Strategien stärker auf Premiumprodukte ausrichten müssen.
Die unteren Preisgrenzen (PMC) zeigen, dass extrem niedrige Preise nicht nur attraktiv wirken, sondern auch Misstrauen hervorrufen können. Beispielsweise wird die PMC für Kinderkleidung bei Temu und Shein mit 4,29 € angegeben, was Konsumenten als Hinweis auf mangelhafte Qualität wahrnehmen könnten.
Dieses Phänomen könnte deutsche Anbieter begünstigen, da ihre höheren Preise als Qualitätsmerkmal interpretiert werden können, insbesondere in Kategorien wie Bettwaren und Haushaltsgeräten, wo Vertrauen in die Marke von zentraler Bedeutung ist.
Die Akzeptanz niedriger Preise variiert erheblich zwischen den Kategorien. In Modekategorien wie Damen- und Herrenbekleidung werden die Preise von Temu und Shein weitgehend akzeptiert, während in langlebigen Kategorien wie Haushaltsgeräten höhere Preise mit Qualität und Haltbarkeit assoziiert werden.
Diese Variation zeigt, dass die Preissensibilität der Konsumenten stark von der wahrgenommenen Wichtigkeit der Produktqualität abhängt.
Reaktanz gegenüber „zu günstigen“ Preisen ist besonders in Kategorien wie Sportbekleidung und Schuhen sichtbar, wo Konsumenten Preise unterhalb der PMC als verdächtig empfinden. Diese Wahrnehmung könnte deutsche Anbieter ermutigen, ihre Preise innerhalb einer akzeptablen Bandbreite zu halten und ihre Marketingstrategien auf Glaubwürdigkeit und Qualität auszurichten.
Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die Strategien von Temu und Shein die Preiswahrnehmung und das Kaufverhalten in allen untersuchten Kategorien signifikant beeinflussen. Während ihre niedrigen Preise neue Standards setzen und impulsive Kaufentscheidungen fördern, zeigen die Daten auch, dass in Kategorien mit hohen Qualitätsanforderungen wie Haushaltsgeräten und Bettwaren deutsche Anbieter durch Differenzierung weiterhin erfolgreich sein können.
Für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit müssen deutsche Anbieter ihre Strategien stärker auf Nachhaltigkeit, Qualität und Markentreue ausrichten, während Temu und Shein an ihrer Markenwahrnehmung arbeiten sollten, um Misstrauen gegenüber „zu günstigen“ Preisen zu minimieren.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung liefern einen umfassenden Einblick in die Auswirkungen der Preisstrategien von Temu und Shein auf die Preiswahrnehmung, das Kaufverhalten und die Marktstruktur im deutschen Handel. Sie offenbaren sowohl Chancen als auch Herausforderungen für etablierte Anbieter und neue Marktteilnehmer. Eine ganzheitliche Betrachtung der Ergebnisse zeigt, dass die günstigen Preise von Temu und Shein signifikante Veränderungen in der Dynamik von Konsumentscheidungen hervorrufen, jedoch nicht ohne Einschränkungen und Risiken.
Die aggressive Preispolitik von Temu und Shein verschiebt die Referenzpreise in nahezu allen Kategorien nach unten. Konsumenten gewöhnen sich an niedrigere Preisniveaus, die zu einer Senkung der wahrgenommenen Preisgrenzen führen. Diese Veränderung hat weitreichende Auswirkungen:
Die Studie zeigt, dass niedrige Preise oft als Hinweis auf ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis interpretiert werden. Diese Wahrnehmung beruht jedoch weniger auf objektiven Qualitätskriterien als auf der Diskrepanz zwischen wahrgenommenem Nutzen und tatsächlichen Kosten. Für bestimmte Produktkategorien hat dies folgende Konsequenzen:
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Temu und Shein die Wahrnehmung von Preisfairness deutscher Anbieter herausfordern. Konsumenten vergleichen Preise direkt, ohne immer die damit verbundenen Leistungen zu berücksichtigen. Dies kann zu einem „Race to the Bottom“ führen, bei dem Anbieter gezwungen sind, Preise zu senken, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Gleichzeitig birgt dies folgende Risiken:
Die niedrigen Preise von Temu und Shein fördern impulsives Kaufverhalten, was insbesondere in Kategorien mit geringem Involvement wie Mode oder Küchenutensilien deutlich wird. Diese Strategie kann kurzfristig Marktanteile sichern, hat jedoch langfristige Implikationen:
Die Daten zeigen, dass die Marktstruktur langfristig eine Polarisierung erfahren könnte. Zwei wesentliche Entwicklungen sind wahrscheinlich:
Die unteren Preisgrenzen (PMC) der Analyse zeigen, dass extrem niedrige Preise in einigen Kategorien Misstrauen hervorrufen. Produkte, die unterhalb dieser Grenze positioniert sind, könnten von Konsumenten als minderwertig wahrgenommen werden. Dies betrifft insbesondere:
Die Untersuchung zeigt, dass die Strategien von Temu und Shein signifikante Veränderungen in der Preiswahrnehmung und im Konsumentenverhalten bewirken. Während ihre niedrigen Preise neue Standards setzen, sind die langfristigen Auswirkungen auf Marktstrukturen und Nachhaltigkeit noch nicht vollständig absehbar. Deutsche Anbieter haben die Chance, durch Differenzierung und Qualität ihre Position zu stärken, müssen sich jedoch auf die veränderten Erwartungen der Konsumenten einstellen, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben.