1. Einleitung & Problemstellung
Marketing, wie es über Jahrzehnte verstanden, gelehrt und praktiziert wurde, befindet sich im Zustand fortgeschrittener struktureller Erosion. Was einst als kreatives, strategisches und narrativ geprägtes Tätigkeitsfeld galt, ist zunehmend einem paradigmatischen Wandel unterworfen, dessen Tiefendynamik weder rein technologisch noch kurzfristig erklärbar ist. Die digitale Plattformökonomie – dominiert von Akteuren wie Google, Meta, Amazon und TikTok – hat die Bedingungen ökonomischer Sichtbarkeit, kommunikativer Relevanz und letztlich auch markenstrategischer Wirksamkeit nachhaltig transformiert. Dabei ist nicht lediglich ein neues Instrumentarium entstanden, sondern ein neues System.
Dieses System basiert auf algorithmisch gesteuerter Allokation von Aufmerksamkeit. Die Kommunikationskanäle, über die Marken und Unternehmen heute ihre Zielgruppen erreichen, sind keine neutralen Trägermedien, sondern regelbasierte, proprietäre Infrastrukturen mit inhärenter ökonomischer Logik: Sichtbarkeit ist käuflich, Interaktion ist quantifizierbar, und Relevanz ist das Ergebnis algorithmischer Bewertungskriterien, nicht mehr primär menschlicher Rezeption. Wer sich in diesen Systemen behaupten will, benötigt keine Kampagnenidee, sondern ein tiefes Verständnis der Funktionsweise algorithmischer Kuratierung, datengestützter Attribution und API-basierter Schnittstellen. Damit verändert sich das Grundverständnis von Marketingarbeit: Es wird weniger zur kreativen Ausdrucksform als vielmehr zur betriebssystemischen Navigationsleistung.
Für Agenturen stellt dieser Wandel eine doppelte Herausforderung dar. Einerseits verlieren ihre traditionell zentralen Leistungen – wie Kreativkonzeption, Kampagnenarchitektur oder klassische Markenführung – massiv an strategischer Hebelkraft. Diese Leistungen werden zunehmend als Commodities wahrgenommen: als austauschbar, standardisierbar, operationalisierbar. Ihre Wertigkeit nimmt in dem Maße ab, in dem sie nicht mehr mit struktureller Differenzierungsfähigkeit korrelieren. Andererseits entstehen neue Kompetenzfelder – etwa im Bereich der datengetriebenen Entscheidungsarchitektur, der semantischen Plattformstrukturierung oder der automatisierten Content-Ausspielung –, deren Beherrschung eine andere Agenturlogik erfordert: weg von der Idee als zentrales Kapital, hin zum Systemverständnis als entscheidender Ressource.
Auch auf Kundenseite verschärft sich die Dynamik. Unternehmen stehen unter zunehmendem Druck, marketingbezogene Wertschöpfung nicht mehr nur entlang interner KPIs, sondern entlang plattformbasierter Performanzmetriken zu realisieren. Inhouse-Teams stoßen dabei schnell an epistemische und operative Grenzen – sowohl in der technischen Tiefe als auch in der strategischen Perspektive. Die Zusammenarbeit mit Agenturen verlagert sich folglich von der Ko-Kreation zur Komplexitätsreduktion: Agenturen werden zu Interpreten und Navigationshilfen innerhalb eines Systems, das dem Kunden selbst immer weniger durchschaubar erscheint. Damit geht auch ein grundlegender Wandel des Agentur-Kunden-Verhältnisses einher – von der Partnerschaft auf Augenhöhe zur asymmetrischen Interdependenz.
Diese Studie setzt an der Schnittstelle zwischen dieser systemischen Transformation und ihrer konkreten Auswirkung auf die operative wie strategische Marketingarbeit an. Auf Basis einer Trendbefragung unter 232 Marketing-Professionals aus Agenturen, Unternehmen und Beratungsinstitutionen untersucht sie, wie sich die Wertschöpfungslogik im Marketing durch die strukturelle Dominanz digitaler Plattformen verschiebt. Im Fokus steht dabei nicht nur die Frage, welche klassischen Leistungen entwertet, sondern vor allem, welche neuen Wertschöpfungsbereiche entstehen – und wie sich daraus tragfähige, zukunftsorientierte Kompetenzprofile und Organisationsmodelle ableiten lassen.
Die Hypothese, die dieser Untersuchung zugrunde liegt, ist bewusst radikal: Marketing verliert dort an Bedeutung, wo es sich weiterhin über seine kreative Ausdrucksform legitimiert – und gewinnt dort an Relevanz, wo es sich als systemisches, tief strukturiertes Interface zwischen Plattformlogik, algorithmischer Ökonomie und organisationaler Zielarchitektur neu positioniert. Nicht die Idee ist das Kapital der Zukunft, sondern die Fähigkeit, die Bedingungen für ihre Sichtbarkeit algorithmisch zu gestalten. Marketing, so die These, wird zur Betriebswissenschaft digitaler Aufmerksamkeit.
Die Frage nach der künftigen Wertschöpfung im Marketing kann nicht unabhängig von der strukturellen Veränderung der Kontexte beantwortet werden, in denen Marketing heute operiert. Um die beobachtbare Erosion klassischer Agenturleistungen sowie die parallele Emergenz neuer Kompetenzfelder analytisch zu fassen, bedarf es eines mehrdimensionalen theoretischen Rahmens, der ökonomische, systemische und organisationstheoretische Perspektiven integriert. Im Zentrum steht dabei die These, dass Marketing nicht länger primär als kreative Umsetzungspraxis, sondern zunehmend als strategische Navigationsleistung in algorithmisch strukturierten Plattformsystemen verstanden werden muss. Diese Repositionierung lässt sich entlang von vier zentralen Theorieansätzen modellieren.
Über viele Jahrzehnte hinweg galt Marketing in Theorie und Praxis als strategische Führungsdisziplin. Es war die Schnittstelle, an der marktwirtschaftliche Anforderungen, unternehmerische Wertschöpfung und kulturelle Repräsentation miteinander vermittelt wurden. In dieser klassischen Lesart – prominent vertreten durch Vertreter wie Kotler & Keller (2016) – erfüllte Marketing die Funktion einer übergeordneten Koordinationsinstanz: Es interpretierte Marktveränderungen, generierte daraus differenzierende Markenstrategien und überführte diese in kommunikative Leitplanken, die die Marktposition von Unternehmen langfristig sicherten.
Im Zentrum dieser klassischen Funktion standen drei wesentliche Dimensionen: Erstens das strategische Zielgruppenverständnis als Grundlage differenzierter Segmentierungs- und Positionierungsentscheidungen, zweitens die kreative Konzeption als Ausdruck einzigartiger Markenidentität, und drittens die mediale Umsetzung entlang der jeweiligen Kanäle – wobei letztere stets als Exekution strategischer Überlegungen gedacht war, nicht als autonomer Steuerungspunkt.
Mit dem Aufstieg digitaler Plattformen als dominanter Infrastruktur kommunikativer Wertschöpfung ist diese Logik nicht nur erweitert, sondern grundlegend reorganisiert worden. Plattformen wie Google, Meta, Amazon oder TikTok sind keine neutralen Träger klassischer Kommunikationsstrategien. Sie sind selbst Steuerungssysteme mit eigenen epistemischen Regeln, ökonomischen Interessen und technischen Gatekeeping-Mechanismen. Sichtbarkeit, Reichweite und Konversion sind in diesem System keine bloßen Ableitungen strategischer Planung mehr, sondern das Ergebnis einer Vielzahl algorithmisch induzierter, oft intransparenter Operationen, die auf Echtzeitdaten, Nutzerverhalten, Predictive Modelling und dynamischer Feedbackschleifen beruhen.
Diese strukturelle Verschiebung führt zu einer Dissoziation zwischen strategischer Absicht und operativer Wirkung. Selbst exzellente Markenstrategien oder kreative Konzepte entfalten heute nur dann Wirkung, wenn sie sich passgenau in die mikrostrukturellen Regeln der Plattformen einfügen – seien es semantische Codierungen im SEO-Kontext, visuelle Taktfrequenzen im TikTok-Feed oder Conversion-Optimierung entlang von Attribution-Fenstern auf Meta. Die operative Realität des Marketings ist damit nicht länger bloß Ausführung, sondern ein autonomer Wirkraum eigener Rationalität geworden – gesteuert durch Metriken, Rankings und Logiken, die jenseits klassischer Markenführung liegen.
In dieser neuen Realität entstehen tiefgreifende Spannungsverhältnisse. Einerseits ist das Bedürfnis nach strategischer Kohärenz ungebrochen – Marken benötigen nach wie vor konsistente Narrative, Identitätsanker und langfristige Positionierung. Andererseits unterlaufen die operationellen Anforderungen der Plattformen diese Kohärenz regelmäßig: Der algorithmische Imperativ verlangt Geschwindigkeit, Modularisierung, Hypersegmentierung und die Bereitschaft zur ständigen mikro-adaptiven Optimierung. In vielen Unternehmen führt dies zu einer Entkopplung von Strategie und Exekution, die in der Praxis kaum noch aufgelöst wird. Markenführung wird fragmentiert, Agenturarbeit reaktiv, und Marketing verliert zunehmend seine Rolle als übergeordnete Steuerungsinstanz.
Diese Entwicklung erzwingt eine konzeptionelle Neubestimmung dessen, was Marketing im digitalen Plattformzeitalter bedeutet. An die Stelle einer übergreifenden Steuerung tritt ein neues Verständnis von Marketing als Systemmanagement: Es geht weniger um die Entwicklung kommunikativer Leitbilder, sondern um die Fähigkeit, in einem komplexen, dynamischen und zunehmend autonomen technischen Ökosystem navigieren zu können. Wer künftig Wert schaffen will, muss nicht nur gestalten, sondern auch interpretieren, antizipieren und in Echtzeit reagieren – nicht entlang klassischer Zielgruppensegmentierungen, sondern entlang plattformbasierter Resonanzarchitekturen, in denen Relevanz algorithmisch erzeugt, distribuiert und modifiziert wird.
Marketing ist damit nicht mehr primär eine gestalterische Praxis, sondern eine interfacetheoretische Disziplin: Es vermittelt zwischen der Struktur des Marktes, den digitalen Funktionslogiken der Plattformen und den ökonomischen Zielen des Unternehmens. Diese Vermittlungsleistung erfordert eine neue Art von Expertise – eine, die technische Systemkenntnis, strategische Urteilskraft und operative Mikrokompetenz in sich vereint. Agenturen und Marketingabteilungen, die diesen Übergang nicht vollziehen, laufen Gefahr, ihre Anschlussfähigkeit an die tatsächlichen Steuerungszentren digitaler Wertschöpfung zu verlieren.
Die Commoditization Theory – zentral ausgearbeitet durch Kumar (2004) sowie Sasser, Olsen und Wyckoff (1991) – beschreibt einen ökonomischen Entwertungsprozess, der dann einsetzt, wenn vormals einzigartige Produkte oder Dienstleistungen durch Standardisierung, Preiswettbewerb und Austauschbarkeit ihrer strategischen Differenzierungsfähigkeit beraubt werden. Während die Theorie ursprünglich zur Erklärung von Marktdynamiken im Kontext industrieller Güter entwickelt wurde, zeigt sich ihre Relevanz heute insbesondere im Bereich immaterieller Dienstleistungen – und dort mit besonderer Brisanz im Feld des Marketings.
Marketingdienstleistungen, die über Jahrzehnte hinweg als Ausdruck schöpferischer Differenz galten – darunter Markenentwicklung, Kampagnenkonzeption, visuelles Design oder auch Storytelling – unterliegen in der gegenwärtigen Plattformökonomie einem Prozess systemischer Entwertung. Diese Entwertung ist dabei nicht als Ausdruck qualitativer Degeneration zu verstehen; sie ist vielmehr das Resultat eines Paradigmenwechsels in der Wertzurechnung: Was heute als relevant, wirksam oder wertvoll gilt, bemisst sich nicht mehr primär an ästhetischen oder strategischen Kriterien, sondern an der algorithmischen Kompatibilität mit den technischen Infrastrukturen der Plattformen.
Die zentralen Gatekeeper digitaler Sichtbarkeit – von Google bis TikTok – setzen keine inhaltlichen Maßstäbe im klassischen Sinne. Sie bewerten Beiträge nicht nach Originalität, Tiefe oder narrativer Qualität, sondern nach kontextuellen Signalen, Interaktionsmetriken, semantischer Codierung und Verhaltensprognosen. Damit verschiebt sich die Bewertungsgrundlage von Idee zu Implementierung, von Kreativität zu Konformität mit strukturellen Relevanzkriterien. Leistungen, die sich nicht präzise in diese algorithmischen Raster einfügen, verlieren ihren Wirkhebel – ungeachtet ihrer inhaltlichen Qualität. Der kreative Mehrwert wird auf eine operative Kosten-Nutzen-Relation reduziert, die sich nahezu ausschließlich aus Performancekennzahlen ableitet.
Die Folge ist ein sich beschleunigender Prozess der Kommodifizierung klassischer Agenturleistungen. Wo früher Differenz durch gestalterische Handschrift oder strategischen Tiefgang erzeugt wurde, dominiert heute ein Wettbewerbsumfeld, das durch Interchangeability, Speed und Effizienz geprägt ist. Content wird massenhaft produziert, automatisiert ausgespielt und auf mikrosegmentierte Zielgruppen ausgerichtet – häufig nicht durch Menschen, sondern durch KI-gestützte Systeme. Die kreative Agenturarbeit verliert dadurch ihren Status als „Premiumdienstleistung“ und gerät in die Nähe industrieller Routinetätigkeit.
Diese Entwicklung bringt tiefgreifende Implikationen mit sich. Zum einen entsteht eine neue Kostenlogik, in der Agenturleistungen primär als variabel skalierbare Einheiten betrachtet werden – zuweisbar, vergleichbar, outsourcingfähig. Zum anderen verändert sich die Wahrnehmung von Qualität: Nicht mehr das Besondere zählt, sondern das Funktionale; nicht mehr die Tiefe, sondern die Geschwindigkeit; nicht mehr die Originalität, sondern die Optimierung entlang plattformspezifischer Metriken. Kreativität verliert dabei nicht nur ihre strategische Funktion, sondern auch ihren kulturellen Ort. Sie wird rekodiert als Ressource unter Vorbehalt – toleriert, solange sie performt, abgewertet, sobald sie aus dem Raster fällt.
Gleichzeitig eröffnet die Commoditization aber auch neue Spannungsräume. Denn in dem Maße, wie klassische Leistungen entwertet werden, entsteht ein Bedarf an neuen Formen der Differenzierung – jenseits der sichtbaren Oberfläche. Differenz ergibt sich künftig nicht mehr durch den Output selbst, sondern durch die Fähigkeit, diesen Output in den Tiefenstrukturen digitaler Systeme sinnvoll zu verankern. Nicht das, was kommuniziert wird, macht den Unterschied, sondern das, wie und wo es anschlussfähig ist: semantisch, technisch, rhythmisch, behavioral.
Diese Transformation markiert somit keinen simplen Bedeutungsverlust des Marketings, sondern eine radikale Reorganisation seiner Wertgrundlagen. Agenturen, die diesen Wandel nicht als systemischen Strukturbruch, sondern lediglich als temporären Trend interpretieren, riskieren, in einem Markt zu operieren, dessen Spielregeln sie nicht mehr verstehen – und in dem ihre bisherigen Stärken zur austauschbaren Hintergrundkulisse degradiert werden.
Die klassische Value Chain Theory, wie sie von Michael E. Porter (1985) formuliert wurde, ist ein Meilenstein der strategischen Managementlehre. Ihr zentrales Erkenntnisinteresse liegt in der Analyse und Optimierung unternehmensinterner Prozesse, um durch eine systematische Aufgliederung der Aktivitäten entlang einer linearen Kette komparative Wettbewerbsvorteile zu generieren. In dieser Logik erfolgt Wertschöpfung sequenziell – von der Eingangslogistik über Produktion, Marketing und Vertrieb bis hin zum Kundendienst. Differenzierung entsteht innerhalb des Unternehmens, gesteuert durch hierarchisch kontrollierbare Ressourcenflüsse.
Doch im digitalen Plattformzeitalter verliert diese lineare Architektur zunehmend ihre Erklärungskraft. Die zentralen Wertschöpfungsprozesse des Marketings – Sichtbarkeit, Interaktion, Konversion und Loyalisierung – sind heute nicht mehr intern kontrollierbare Unternehmensfunktionen, sondern finden exterritorial auf digitalen Plattformen statt. Diese Plattformen sind keine bloßen Distributionskanäle, sondern eigenständige ökonomische Entitäten mit proprietären Regelsystemen, die als technische, algorithmische und ökonomische Mittler zwischen Angebot und Nachfrage agieren. Die Marketingwertschöpfung verlagert sich somit von der kontrollierbaren Binnenlogik der Unternehmung in die strukturelle Abhängigkeit von externen Systemakteuren, deren Steuerungslogiken dem Unternehmen selbst zunehmend unzugänglich bleiben.
Diese Entwicklung führt zu einer Fragmentierung der Wertschöpfungskette und zur Ausbildung eines neuen, nicht-linearen Wertschöpfungsmodells: Digitale Wertschöpfung ist nicht mehr ein sequenzieller Prozess, sondern ein verteiltes, multikausales Netzwerk, das von dynamischen, oft intransparenten Interdependenzen geprägt ist. Sichtbarkeit auf Google ergibt sich aus SEO-Relevanzkriterien, die permanent neu gewichtet werden; Konversion auf Meta basiert auf datengetriebenem Targeting, das durch historische Verhaltensdaten gesteuert wird; Markenbindung auf TikTok ist eine Funktion sozialer Resonanzmetriken, nicht strategischer Planung.
In dieser neuen Architektur ist Wert nicht mehr das Produkt von Kontrolle, sondern von Verbindung. Die Fähigkeit, sich an die Schnittstellen algorithmisch gesteuerter Systeme anzubinden – semantisch, technisch, visuell, performativ – wird zur zentralen Ressource ökonomischer Wirkung. Damit verschiebt sich die Quelle des Wettbewerbsvorteils: Nicht mehr die Qualität interner Prozesse entscheidet über den Markterfolg, sondern die Kompetenz, diese Prozesse so zu strukturieren, dass sie nahtlos in externe Plattformlogiken überführt werden können. Unternehmen müssen lernen, ihre internen Strukturen nicht auf Effizienz, sondern auf Resonanzfähigkeit mit externen Ökosystemen auszurichten.
Diese Entwicklung erfordert eine grundlegende Rekonzeptualisierung der Marketingfunktion. Marketing kann unter diesen Bedingungen nicht länger als abgeschlossene Wertschöpfungsstufe innerhalb der Unternehmensstruktur verstanden werden. Es wird vielmehr zur Interface-Instanz, die zwischen den Zielen des Unternehmens und den Spielregeln der Plattformen vermittelt. Dabei kommt es nicht auf die klassische Beherrschung einzelner Tools an, sondern auf die systemische Kompetenz, Plattformdynamiken strategisch vorauszudenken, sich operativ daran anzupassen und diese kontinuierlich in das organisationale Handlungswissen zu überführen.
Diese neue Wertlogik ist jedoch nicht nur operativ komplexer – sie ist auch strategisch prekärer. Denn die externe Verlagerung der Steuerungszentren macht Unternehmen anfällig für plötzliche Regeländerungen, algorithmische Disruptionen oder infrastrukturelle Machtverschiebungen. In einer Architektur, in der die Wertschöpfung nicht mehr im Unternehmen selbst, sondern in der Interaktion mit Black-Box-Systemen realisiert wird, entsteht eine Form struktureller Abhängigkeit, die neue strategische Fähigkeiten erfordert: Resilienz gegenüber Intransparenz, Antizipation externer Steuerung und ein tiefes Verständnis von Plattform-Governance.
Vor diesem Hintergrund ist Porters Wertkette nicht obsolet, sondern transformierbar: Sie muss als adaptive, netzwerkbasierte Architektur neu gedacht werden, in der Wert nicht mehr entlang einer Kette, sondern entlang multipler, rekursiver Schnittstellen entsteht. Unternehmen, die dies nicht verstehen, optimieren weiter intern – während ihre Relevanz extern verschwindet.
Die Transformation von Märkten im digitalen Zeitalter lässt sich kaum verstehen, ohne die strukturelle Machtverlagerung zu berücksichtigen, die durch die globale Durchsetzung der Plattformlogik ausgelöst wurde. Die Plattformökonomie, wie sie etwa von Srnicek (2016) oder Van Dijck et al. (2018) theoretisiert wurde, beschreibt nicht nur ein neues Geschäftsmodell, sondern ein neues Marktregime – gekennzeichnet durch die systematische Umcodierung von wirtschaftlicher Wertschöpfung, Zugangsregulierung und Sichtbarkeitsproduktion. An die Stelle einer direkten Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten tritt eine intermediäre Architektur, in der Plattformen nicht nur als Vermittler, sondern als regulative Infrastrukturen mit normativer Steuerungsfunktion agieren.
Diese Plattformen fungieren als gatekeeper architectures – sie kontrollieren nicht nur, wer mit wem interagiert, sondern unter welchen Bedingungen, mit welcher Sichtbarkeit, Reichweite und welcher Form algorithmisch konstruierter Relevanz. Im Zentrum dieses Steuerungsmodells steht, wie Rouvroy & Berns (2013) zeigen, die Idee der algorithmischen Gouvernementalität: eine Form post-humaner Steuerung, in der Entscheidungen zunehmend nicht mehr durch explizite Intentionen oder normative Diskurse getroffen werden, sondern durch datenbasierte Prognosen, Wahrscheinlichkeitsmodelle und behavioralistische Feedback-Mechanismen.
Diese Entwicklung stellt das Marketing vor eine radikale epistemische und funktionale Disruption. War Marketing über Jahrzehnte hinweg auf die aktive Gestaltung und kommunikative Konstitution von Zielgruppen fokussiert – mittels soziodemografischer Segmentierung, psychografischer Typologisierung oder kultureller Inszenierung –, so wird diese Gestaltungsfunktion nun systematisch entwertet. Zielgruppen sind im Plattformzeitalter nicht mehr das Ergebnis kommunikativer Verdichtung, sondern das Produkt automatisierter Klassifikationslogiken. Sie entstehen nicht durch Ansprache, sondern durch algorithmische Zuschreibung.
Predictive Targeting, Lookalike Audiences, Retargeting-Systeme oder automatisierte A/B-Testings bilden die operative Infrastruktur dieser neuen Adressierungslogik. Zielgruppen „bilden sich“ nicht mehr über langfristige Markenbeziehungen, sondern werden in Echtzeit erzeugt, verschoben, verworfen – je nach Interaktionsverlauf, Engagement-Score, Konversionswahrscheinlichkeit oder Segmentaffinität. Die Konsequenz ist eine Entsubjektivierung des Marketings: Der Konsument wird nicht mehr als interpretierbares Subjekt adressiert, sondern als Datenprofil operationalisiert.
Diese neue Steuerungsarchitektur führt zu einer Entwertung derjenigen Kompetenzen, die bislang den Kern agenturinterner Wertschöpfung ausmachten. Narratives Denken, kreative Segmentlogik, kultursensitive Zielgruppenansprache – all dies verliert an Relevanz in einem Umfeld, das nicht nach Bedeutung, sondern nach Berechenbarkeit funktioniert. Agenturen, die auf diese Verschiebung nicht reagieren, verlieren ihre Anschlussfähigkeit – nicht, weil sie weniger kreativ wären, sondern weil sie innerhalb einer Systemlogik operieren, die Kreativität nur noch dann akzeptiert, wenn sie performativ anschlussfähig ist.
Gleichzeitig wird das Marketing damit in eine strukturelle Ambivalenz gezwungen: Es muss einerseits Resonanz erzeugen, andererseits den technischen Spielregeln folgen. Es muss Bedeutung stiften, aber auf Basis bedeutungsblinder Systeme. Es muss menschliche Aufmerksamkeit gewinnen, aber im Takt nicht-menschlicher Systeme. Diese Spannung lässt sich nicht mehr durch klassische Kommunikationsmodelle auflösen. Sie erfordert eine neue, plattformtheoretisch informierte Marketingepistemologie, die nicht mehr vom Sender-Empfänger-Modell ausgeht, sondern von einer dreidimensionalen Konstellation aus Akteur, Algorithmus und Architektur.
Agenturen, die diese strukturelle Dreiecksbeziehung nicht verstehen, werden in absehbarer Zeit nicht mehr als strategische Steuerungsinstanzen wahrgenommen, sondern lediglich als ausführende Einheiten – degradiert zu Dienstleistungsmodulen innerhalb einer Plattformökonomie, in der der eigentliche Handlungsspielraum von der Logik des Systems, nicht von der Expertise des Akteurs determiniert wird.
Damit wird die algorithmische Gouvernementalität zur unsichtbaren Metastruktur des Marketings: Sie ersetzt nicht das Denken – aber sie formatieren es. Und wer sich ihrer Logik nicht aktiv, bewusst und strategisch stellt, wird nicht nur unsichtbar, sondern irrelevant.
Die Theorie der Dynamic Capabilities, begründet von Teece, Pisano und Shuen (1997), stellt einen konzeptionellen Rahmen dar, um die strategische Resilienz von Organisationen in volatilen, komplexen und technologiegetriebenen Umwelten zu analysieren. Im Zentrum dieser Theorie steht die Annahme, dass langfristige Wettbewerbsvorteile nicht primär aus stabilen Ressourcenpositionen oder Effizienzgewinnen resultieren, sondern aus der Fähigkeit von Organisationen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln: durch Erkennen externer Veränderungen, Umstrukturierung interner Ressourcen und Neukonfiguration operativer Routinen.
Diese Perspektive gewinnt im Zeitalter algorithmischer Plattformökonomien besondere Brisanz. Die strukturellen Rahmenbedingungen des Marketings haben sich in einem Maße verändert, das nicht mehr durch inkrementelle Adaption, sondern nur noch durch organisationsweite Rekonfiguration produktiv beantwortet werden kann. Die Umweltdynamik ist nicht nur technologisch, sondern systemisch: Plattformen agieren als regulierende Meta-Umwelten, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten implementieren – durch API-Standards, Relevanzmetriken, datenbasierte A/B-Testkulturen und fortlaufende Regelmodifikationen. Wer unter diesen Bedingungen erfolgreich agieren will, muss nicht nur flexibel, sondern epistemisch mobil sein.
Im Kontext des Marketings bedeutet dies: Die Differenzierungsfähigkeit von Unternehmen und Agenturen verschiebt sich von der Exzellenz im Bekannten hin zur Antizipationsfähigkeit des Neuen. Es reicht nicht mehr aus, bestehende Fähigkeiten im Bereich Content, Design oder Targeting zu optimieren; entscheidend wird die Fähigkeit, emergente Plattformlogiken frühzeitig zu erkennen, deren implizite Regeln zu dekodieren und strategisch zu internalisieren. Diese Form epistemischer Adaption ist keine rein technische Frage, sondern eine organisationale Herausforderung: Sie verlangt nach strukturell verankerten Lernprozessen, nach institutionalisierter Reflexion technischer Infrastrukturen und nach einem Mindset, das Veränderung nicht als Ausnahme, sondern als Grundbedingung des operativen Alltags begreift.
Dynamic Capabilities im digitalen Marketingumfeld manifestieren sich daher in drei zentralen Ausprägungen:
Damit verschiebt sich das Zentrum der Wertschöpfung im Marketing: Nicht das Was wird entscheidend – der konkrete Output an Content, Kampagne oder Design –, sondern das Wie des Verstehens. Nur Organisationen, die in der Lage sind, die tiefenstrukturellen Bedingungen algorithmisch gesteuerter Kommunikation zu durchdringen und darauf basierend eigene Handlungsräume zu eröffnen, generieren nachhaltigen Wert.
Diese Fähigkeit ist nicht selbstverständlich. Sie ist kein Artefakt bestehender Kompetenzportfolios, sondern das Ergebnis bewusster Entwicklungsstrategien, organisationaler Reflexionsräume und einer kognitiven Reorganisation der Marketingfunktion selbst. Dynamic Capabilities bedeuten in diesem Sinne nicht nur Anpassung, sondern die Fähigkeit zur strategischen Selbsttransformation unter Bedingungen struktureller Fremdsteuerung. Marketing, das dies nicht leistet, verliert nicht nur an Wirksamkeit, sondern an Bedeutung.
Im Zentrum dieser Studie steht die Frage, wo im Zeitalter plattformgesteuerter Kommunikationsökonomie künftig reale Wertschöpfung im Marketing stattfinden wird. Ausgehend von den theoretischen Analysen lassen sich vier Hypothesen formulieren, die als empirischer Prüfrahmen für die nachfolgende Trendbefragung dienen.
Die wahrgenommene strategische Relevanz klassisch-kreativer Marketingleistungen – insbesondere in den Bereichen Kampagnenidee, Storytelling und Design – ist bei Agenturen und Agenturkunden signifikant rückläufig. Stattdessen gewinnen Leistungen an Bedeutung, die auf algorithmische Plattformoptimierung, datenbasierte Steuerung und technologische Systemkompatibilität ausgerichtet sind.
Die klassische Marketingpraxis wurde über Jahrzehnte hinweg durch kreative Differenzierungsstrategien dominiert. Die Fähigkeit, Zielgruppen durch originelle Kampagnenideen, konsistente Markenbilder und narrativ fundierte Storytellingformate emotional zu erreichen, galt als zentrales Unterscheidungsmerkmal erfolgreicher Agenturen. Diese kreative Exzellenz war nicht nur Ausdruck handwerklicher Kompetenz, sondern auch strategisches Kapital in einem Markt, der auf Wiedererkennung, semantischer Verdichtung und kultureller Anschlussfähigkeit beruhte (vgl. Holt, 2004; Keller, 2001).
Mit dem Aufstieg plattformbasierter Kommunikationsökonomien verschiebt sich jedoch das Fundament dieser Wertlogik. Plattformen wie Meta, Google oder TikTok agieren nicht als neutrale Distributionskanäle für kreative Inhalte, sondern als infrastrukturelle Umwelten mit eigenen Steuerungssystemen. Sichtbarkeit, Reichweite und Interaktion – die klassischen Ziele kreativer Kommunikation – sind heute nicht mehr primär inhaltlich, sondern funktional und algorithmisch determiniert. Kreativität entfaltet in dieser Umgebung nur dann Wirkung, wenn sie algorithmisch anschlussfähig ist: codiert, getestet, skaliert, iterativ ausspielbar. Was zählt, ist nicht mehr die konzeptionelle Tiefe oder gestalterische Signatur, sondern die Fähigkeit, sich semantisch und formal in plattformspezifische Logiken einzupassen.
Diese infrastrukturelle Verschiebung führt zu einer Entwertung kreativer Leistung als Differenzierungsmerkmal. Kreativität wird zur nachgelagerten Optimierungsfunktion: Sie ist nicht mehr das epistemische Zentrum der Markenarbeit, sondern ein konfigurierbarer Output innerhalb technisch vorgedachter Rahmenbedingungen. So werden etwa visuelle Inhalte zunehmend nach Thumbnail-Optimierung, Scrolling-Stoppkraft und Conversion-Relevanz bewertet – nicht nach ästhetischer Qualität oder kultureller Originalität. Die Idee hat keinen strategischen Eigenwert mehr, sondern steht im Dienst einer funktionalen, durch KPIs regulierten Systemlogik.
Für Agenturen bedeutet dies eine grundlegende Verschiebung ihres Selbstverständnisses: Von der Rolle des kreativen Gestalters hin zum Interpret algorithmischer Signale. Für Kunden verändert sich parallel die Erwartungshaltung: Agenturleistungen werden weniger anhand ihrer kreativen Innovationshöhe beurteilt, sondern nach ihrer Fähigkeit, kurzfristig messbare Resultate innerhalb digitaler Systeme zu generieren. Branding verliert an strategischer Tiefe, wenn die operative Performance zur alleinigen Erfolgsgröße wird.
Empirisch lässt sich diese Entwicklung als wahrnehmbarer Bedeutungsverlust klassischer Kreativleistungen erfassen. Entscheider:innen sowohl auf Agentur- als auch auf Unternehmensseite messen Leistungen wie Storytelling, Markeninszenierung oder Design im Vergleich zu technologie- und performancegetriebenen Services eine sinkende strategische Relevanz bei. Dabei handelt es sich nicht um eine absolute Entwertung, sondern um eine relative Dekontextualisierung kreativer Exzellenz: Sie wird nicht abgeschafft, sondern unter neue systemische Bedingungen gestellt – in denen ihre Wirkung nur dann entfaltet wird, wenn sie sich in datenbasierte Performance-Logiken einfügt.
Diese Hypothese adressiert daher nicht die Qualität kreativer Arbeit an sich, sondern deren strukturelle Position innerhalb der Wertschöpfungskette. Sie geht davon aus, dass Kreativität in ihrer bisherigen Form nicht mehr als strategischer Hebel fungiert – sondern nur noch als bedingte Funktion in einem System, das durch Plattforminfrastrukturen, Black-Box-Algorithmen und Echtzeitmetriken reguliert wird.
Die strategische Wertschöpfung im Marketing verlagert sich zunehmend von internen Prozessen innerhalb von Agenturen oder Unternehmen hin zu den Schnittstellen externer, algorithmisch gesteuerter Plattformsysteme. Entscheidend ist nicht mehr die Qualität der internen Exekution, sondern die Fähigkeit zur funktionalen Integration in plattformbasierte Infrastrukturen.
Das klassische Verständnis von Marketingwertschöpfung – insbesondere in agentur- oder unternehmenszentrierten Modellen – basiert auf der Annahme, dass die entscheidenden Leistungen entlang einer sequenziellen, intern steuerbaren Wertschöpfungskette erbracht werden (vgl. Porter, 1985). Strategieentwicklung, kreative Konzeption, Medienplanung und Produktion waren innerhalb dieser Logik organisatorisch integrierte Einheiten mit klarem Ressourcenzuschnitt und kontrollierbarer Ergebnisqualität.
Diese Annahme verliert jedoch im Kontext digitaler Plattformökonomie ihre Gültigkeit. Die zentralen Effekte, auf die Marketing zielt – Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit, Interaktion, Conversion – entstehen heute nicht mehr innerhalb der Organisation, sondern an systemisch verlagerten Orten: auf Drittplattformen, die als operative Infrastrukturen der Wahrnehmungsökonomie fungieren. Diese Plattformen – etwa Meta, Google, TikTok, Amazon – agieren nicht als neutrale Distributoren, sondern als aktive Wertschöpfungsakteure, die den Zugang zu Zielgruppen, die Bewertung von Inhalten und die Allokation von Sichtbarkeit algorithmisch regulieren.
Die Folge ist eine tiefgreifende Exterritorialisierung der Marketingwertschöpfung: Unternehmen und Agenturen verlieren die operative Kontrolle über die Bedingungen, unter denen ihre Inhalte überhaupt wahrgenommen oder konvertiert werden. Sichtbarkeit wird nicht mehr hergestellt, sondern verhandelt – nicht durch kreative Originalität, sondern durch technische Anschlussfähigkeit an die jeweilige Plattformlogik. Inhalte, Kampagnen und Markenbotschaften müssen sich in semantisch formalisierte, datenbasierte Systeme einfügen, die nach eigenen Kriterien selektieren, priorisieren und distribuieren.
In diesem Kontext verlagert sich der ökonomische Wertschöpfungskern des Marketings: Nicht das Was der Botschaft ist entscheidend, sondern das Wo, Wie und Wann ihrer Ausspielung. Wer die Regeln der Plattformen nicht versteht – etwa die Struktur von Relevanzmetriken, das Timing algorithmischer Bewertungen oder die technische Architektur von Targeting-APIs –, verliert seine Anschlussfähigkeit an die systemische Realität der Märkte. Die Fähigkeit, Inhalte zu integrieren, wird entscheidender als die Fähigkeit, Inhalte zu kreieren.
Diese Entwicklung verändert auch das Verhältnis von Kreativität und Infrastruktur: Was früher als genuin interne Leistung galt – etwa die Entwicklung einer Markenkampagne –, wird heute erst durch externe infrastrukturelle Validierung überhaupt operationalisierbar. Die Plattform wird zur Bedingung der Möglichkeit von Wirkung. Daraus ergibt sich ein Strukturwandel in der Wertlogik des Marketings: Wert entsteht nicht mehr durch originäre Leistungserbringung, sondern durch funktionale Schnittstellenkompetenz – also durch die Fähigkeit, sich präzise, dynamisch und systemkonform in extern gesteuerte Ökosysteme einzuklinken.
Empirisch lässt sich diese Hypothese als Wahrnehmungsverschiebung innerhalb der Branche fassen: Agenturen und Unternehmen messen den Kompetenzen, die auf Plattformintegration, API-Nutzung, algorithmisches Targeting und technische Attribution zielen, eine deutlich höhere strategische Relevanz bei als klassischen Disziplinen der internen Wertschöpfungskette. In dieser Wahrnehmung wird die interne Kompetenz nicht entwertet – sie wird sekundär, weil die primäre Steuerung nicht mehr im Unternehmen selbst liegt.
Damit verweist diese Hypothese auf eine tiefgreifende infrastrukturelle Reorganisation des Marketings: Relevanz wird nicht produziert, sondern organisiert – und zwar an den Rändern der Organisation, dort, wo sich unternehmensinterne Ziele mit plattformexternen Bedingungen synchronisieren. Die Fähigkeit zur systemischen Schnittstellenintelligenz wird damit zur neuen Leitwährung der Differenzierung.
Agentur- und Unternehmensentscheider:innen messen der Fähigkeit zur algorithmischen Struktur- und Funktionskompetenz – etwa im Bereich API-Nutzung, Predictive Targeting oder Attributionsmodellierung – eine höhere strategische Relevanz bei als der Fähigkeit zur inhaltlichen Kreativkonzeption. Die strategische Differenzierungsfähigkeit verlagert sich damit von semantischer Exzellenz zur infrastrukturellen Intelligenz.
In der Ära vorplattformbasierter Marketingökonomie galt strategische Differenz im Sinne einzigartiger Positionierung, emotionaler Markenführung und kreativer Konzeption als oberste Maxime der Agenturarbeit. Der Wettbewerbsvorteil bestand in der Fähigkeit, kulturell resonante Kommunikationsarchitekturen zu schaffen – differenziert durch semantische Tiefe, mediale Kohärenz und ästhetische Handschrift (vgl. Kapferer, 2012; Keller, 2001). Diese Differenz war sichtbar, narrativ codierbar und auf kommunikativer Interaktion zwischen Marke und Rezipient ausgerichtet.
Mit der Verlagerung der kommunikativen Wertschöpfung in die infrastrukturellen Sphären algorithmisch gesteuerter Plattformen verändert sich jedoch die Logik strategischer Unterscheidung fundamental. Die zentralen Determinanten für Sichtbarkeit, Reichweite und Konversion unterliegen heute nicht mehr primär diskursiven, sondern algorithmischen Kriterien – etwa im Hinblick auf semantische Codierungsstandards, technische Adressierbarkeit, Predictive Scoring, Verweildauer oder Interaktionswahrscheinlichkeiten. Diese Kriterien sind nicht interpretativ, sondern funktional: Sie folgen keiner kulturellen oder gestalterischen Logik, sondern der Operation digitaler Steuerungssysteme.
In dieser Black-Box-Umgebung – geprägt durch intransparente Relevanzmetriken, datengetriebene Rankingmechanismen und dynamische Verhaltensklassifikation – wird algorithmische Anschlussfähigkeit zur Voraussetzung strategischer Wirksamkeit. Die Fähigkeit, Plattformsysteme nicht nur zu bespielen, sondern in ihren internen Funktionslogiken zu verstehen, antizipativ zu lesen und gezielt zu steuern, wird damit zur zentralen Ressource strategischer Differenz.
Diese Ressource manifestiert sich in drei miteinander verschränkten Dimensionen:
Vor diesem Hintergrund verliert die klassische kreative Konzeption nicht zwangsläufig an Wert, wohl aber an strategischer Autonomie. Sie ist nur noch in dem Maße wirksam, wie sie sich in die Logik algorithmischer Systeme einschreiben lässt. Das bedeutet: Kreativität bleibt notwendig, aber sie wird kontingent – operationalisierbar nur innerhalb der systemischen Grenzen, die durch Plattformarchitekturen gesetzt werden.
Empirisch wird diese Hypothese durch die zunehmende Relevanzverschiebung in der Wahrnehmung von Entscheidungsträger:innen gestützt: Während kreative Konzeption zunehmend als taktisch oder additiv bewertet wird, erfahren Kompetenzen wie Attribution Management, Signaldesign, Datenintegration oder API-basierte Skalierung eine Aufwertung zur strategischen Kernfunktion. Agenturen, die in diesen Feldern keine Expertise besitzen, verlieren ihren Status als strategischer Partner und werden zu austauschbaren Content-Zulieferern degradiert.
In ihrer Konsequenz beschreibt diese Hypothese somit einen paradigmatischen Shift: Strategische Differenz entsteht nicht mehr im Diskursraum der Marke, sondern im Systemraum der Infrastruktur. Wer diesen Raum nicht versteht, verliert nicht nur an Sichtbarkeit, sondern an Daseinsberechtigung im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Relevanz und Resonanz.
Die Fähigkeit zur kontinuierlichen Anpassung an sich wandelnde Plattformlogiken – verstanden im Sinne dynamischer organisationaler Fähigkeiten – wird von Marketing-Professionals als entscheidender Erfolgsfaktor für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit eingeschätzt. Ihre Bedeutung übertrifft die Relevanz statischer Fachkompetenzen oder materieller Ressourcenverfügbarkeit.
Die Theorie der Dynamic Capabilities (Teece et al., 1997; Eisenhardt & Martin, 2000) postuliert, dass nachhaltiger Wettbewerbsvorteil nicht primär aus dem Besitz bestimmter Ressourcen oder Kompetenzen resultiert, sondern aus der Fähigkeit von Organisationen, sich unter Bedingungen externer Dynamik strategisch selbst zu erneuern. Diese Fähigkeit manifestiert sich im rekursiven Prozess des Wahrnehmens (sensing), Ergreifens (seizing) und Reorganisierens (reconfiguring) von Chancen, Bedrohungen und Veränderungsnotwendigkeiten.
Im Kontext des Plattformmarketings erhält diese Theorie eine besondere Relevanz. Denn digitale Plattformen sind keine stabilen Umgebungen, sondern hochvolatile Steuerungssysteme, deren Regeln, Formate, Algorithmen und Distributionslogiken sich kontinuierlich verändern – oft in Echtzeit, oft intransparenter Natur, meist in Verbindung mit ökonomischen Eigeninteressen der Plattformbetreiber. Diese Dynamik stellt Unternehmen und Agenturen vor die Herausforderung, nicht auf einem Kompetenzbestand aufzubauen, sondern ihre Fähigkeiten permanent neu konfigurieren zu müssen.
Klassische Marketingkompetenzen – wie Content-Strategie, Markenführung oder Mediaplanung – verlieren in diesem Kontext nicht zwangsläufig an Wert, wohl aber an Steuerungsfunktion. In einer Umgebung, in der die Relevanz von Touchpoints, Formaten und Attributionsmodellen nicht langfristig planbar ist, sondern sich iterativ verschiebt, werden statische Kompetenzportfolios dysfunktional. Sie bilden vergangene Erfolgslogiken ab, sind aber blind gegenüber der Systemlogik zukünftiger Anforderungen.
Strategische Wettbewerbsfähigkeit im Marketing ergibt sich daher zunehmend aus der Fähigkeit, plattforminduzierte Regelveränderungen frühzeitig zu identifizieren, deren Auswirkungen auf die eigene Wertschöpfung zu verstehen, und daraufhin interne Prozesse, Teams, Tools und Routinen adaptiv neu zu konfigurieren. Dies erfordert nicht nur technologische Reaktionsfähigkeit, sondern strukturelle Lernarchitektur – etwa in Form flexibler Skill-Matrizen, flacher Hierarchien, datenbasierter Feedbacksysteme und crossfunktionaler Teams, die strategisch und operativ zugleich denken können.
Im praktischen Alltag bedeutet dies eine Abkehr vom projektbasierten Denken hin zu organisierter Unbeständigkeit: Agenturen und Marketingabteilungen müssen sich nicht auf ein spezifisches Können spezialisieren, sondern auf die Meta-Fähigkeit zur kontinuierlichen Kompetenzmodulation. Diese umfasst:
Empirisch äußert sich diese Hypothese in der Annahme, dass Professionals im Bereich Marketing, Media und Agentursteuerung nicht mehr spezifisches Fachwissen oder Ressourcenvorteile (wie Budget oder Technologie) als entscheidend betrachten, sondern die organisational verankerte Fähigkeit, sich kontinuierlich und systematisch an veränderte Plattformregeln anzupassen. Diese dynamische Anpassungsfähigkeit wird als neue Leitdimension strategischer Wettbewerbsdifferenz wahrgenommen – eine Form der Meta-Kompetenz, die die operative Lücke zwischen technologischer Intransparenz und marktwirtschaftlicher Zielsetzung überbrückt.
In dieser Perspektive werden Organisationen nicht durch das, was sie wissen, erfolgreich – sondern durch das, wie sie sich permanent neu organisieren, um weiterhin wissen zu können. Die Fähigkeit zur Re-Konfiguration ersetzt die Fähigkeit zur Planung. Und genau darin liegt die strategische Logik zukünftiger Marketingarbeit.
Ziel der vorliegenden Studie ist es, die im theoretischen Rahmen entwickelten Hypothesen zur strukturellen Transformation der Marketingwertschöpfung empirisch zu überprüfen und zugleich offene, zukunftsgerichtete Perspektiven auf neue Differenzierungsformen in der Agentur- und Unternehmenspraxis zu identifizieren. Die Studie folgt dabei einem Mixed-Methods-Ansatz, der quantitative Validierung und qualitative Exploration in einem integrierten Erhebungsdesign miteinander verbindet.
Im Zentrum steht die Frage nach der künftigen locus der Wertschöpfung im Marketing – verstanden nicht als operative Disziplin, sondern als infrastrukturell eingebettete Funktion im Ökosystem algorithmischer Plattformökonomien. Die empirische Untersuchung wurde so konzipiert, dass sie sowohl theoriegenerierte Hypothesen prüft als auch emergente Muster, Begriffe und Strategien aufdecken kann, die im Feld als zukunftsweisend gelten.
Die Befragung basiert auf einer Trendstudie mit N = 232 Professionals aus den Bereichen Marketing, Media, Unternehmensberatung, Agenturen und Marketingabteilungen in Unternehmen. Ziel war es, eine strukturell heterogene, aber erfahrungsnahe Stichprobe zu erfassen, die sowohl operative als auch strategische Perspektiven auf die Veränderungen im Marketing abbildet.
Die Zusammensetzung der Stichprobe erfolgte nach folgenden Segmentierungsdimensionen:
Diese Segmentierung ermöglicht es, sowohl gemeinsame Trendlinien als auch divergente Wahrnehmungen entlang institutioneller und professioneller Kontexte differenziert auszuwerten.
Die Erhebung gliederte sich in drei methodisch komplementäre Module:
(1) Quantitativer Block: Skalierte Einschätzungen (Likert-Skalen)
Die Befragten wurden gebeten, zentrale Aussagen zu den vier Hypothesen (z. B. „Kreativität verliert an strategischer Bedeutung“, „Algorithmische Steuerung wird zur Hauptkompetenz“) auf 5-stufigen Likert-Skalen zu bewerten. Ziel war es, die Wahrnehmung strategischer Relevanzverschiebungen in quantifizierbarer Form zu erfassen.
Zudem wurde die strategische Wichtigkeit von 20 Einzelleistungen (z. B. Storytelling, Attribution Modeling, API-Kompetenz, UX-Optimierung, Branding, Predictive Targeting etc.) auf einer Wichtigkeits-Skala von 1 bis 5 bewertet. Diese Items dienen als Grundlage für eine faktorenanalytische Clusterung neuer Kompetenzfelder.
(2) Explorative Clusterung: Zukünftige Wertschöpfungsfelder
Basierend auf den Relevanzeinschätzungen wurde eine explorative Clusteranalyse durchgeführt, um potenzielle Zukunftsprofile marketingstrategischer Wertschöpfung zu identifizieren. Die Annahme: Die Zukunft des Marketings lässt sich nicht entlang linearer Fortschreibungen klassischer Disziplinen denken, sondern entlang emergenter Kompetenzbündel (z. B. „algorithmische Markenführung“, „Interface-Kompetenz“, „Systemintegration“).
Diese analytische Strukturierung erlaubt es, differenzierende Profile künftiger Marketingarbeit herauszuarbeiten – sowohl auf Agentur- als auch auf Unternehmensseite.
(3) Qualitativer Block: Offene Fragen zur Zukunft des Marketings
Zur ergänzenden qualitativen Fundierung wurden zwei offene Fragen eingesetzt:
Ziel war es, semantische Muster, Begriffscluster und strategische Metaphern zu identifizieren, die in professionellen Diskursen als zukunftsrelevant zirkulieren. Die Auswertung erfolgt mithilfe eines qualitativ-strukturierten Codierverfahrens, bei dem sprachliche, inhaltliche und funktionale Kategorien systematisch erfasst und analysiert wurden.
Die Analyse folgt einem dreistufigen Verfahren:
Die empirische Erhebung mit N = 232 Professionals aus Agenturen, Unternehmen, Beratung und Medien zeigt ein differenziertes, zugleich aber deutliches Bild: Marketing wird nicht nur als operativ herausgefordert, sondern als strukturell neu zu definierendes System verstanden. Die Daten stützen in weiten Teilen die entwickelten Hypothesen – und zeigen zugleich Nuancen und Spannungsfelder auf, die für die zukünftige Ausgestaltung von Marketing- und Agenturmodellen hochrelevant sind.
(Hypothese 1: Substanzverlust kreativer Differenzierung)
Die Ergebnisse der quantitativen wie qualitativen Erhebung legen eine tiefgreifende Verschiebung im strategischen Bedeutungsgefüge klassischer Kreativleistungen offen. Leistungen wie Kampagnenkonzeption, Contentproduktion und Design, die über Jahrzehnte hinweg als kulturelle Träger von Markenidentität und Differenz galten, werden im gegenwärtigen Plattformmarketing nicht mehr als strategische Schlüsselressourcen wahrgenommen.
Die befragten Professionals bewerteten die strategische Relevanz klassisch-kreativer Marketingleistungen im Mittel mit Werten zwischen 2,9 und 3,3 auf einer 5er-Likert-Skala, wobei Befragte mit hoher Plattformexpertise (≥ 5 Jahre Multi-Channel-Erfahrung) signifikant geringere Einschätzungen abgaben (p < 0,05, t-Test). Besonders markant ist der Unterschied bei der Bewertung von „Storytelling“: Während Marketingverantwortliche mit geringem Plattformkontakt diesem Begriff noch narrative Wirkkraft zuschrieben, erklärten Plattformprofis Storytelling mehrheitlich zur „irrelevanten Verpackung“ – eine semantisch deutliche Umcodierung.
Die qualitative Inhaltsanalyse der offenen Fragen ergibt ein deutliches Bedeutungscluster: Kreative Arbeit wird nicht mehr als epistemisch originäre Leistung, sondern als nachgelagerte Exekutivfunktion verstanden – aktiviert unter der Bedingung algorithmischer Anschlussfähigkeit. Besonders häufig codierte Begriffe waren:
Was sich hier andeutet, ist nicht bloß eine Umgewichtung innerhalb eines Kompetenzportfolios, sondern ein Paradigmenwechsel in der strategischen Ontologie kreativer Arbeit: Kreativität verliert ihre Position als „strategischer Primat“ und wird zur bedingten Ressource technischer Wirksamkeit – eingesetzt, wenn sie funktional ist, ausgeblendet, wenn sie störend wirkt. Sie fungiert damit nicht länger als Träger von Differenz, sondern als Differenz unter Vorbehalt.
Diese Entwertung ist nicht als Ablehnung von Kreativität im Allgemeinen zu interpretieren – sondern als Ausdruck einer tiefgreifenden strukturellen Rekontextualisierung: Der strategische Wert kreativer Leistungen wird heute nicht mehr aus ihrer inhaltlichen Singularität abgeleitet, sondern aus ihrer funktionalen Integrierbarkeit in algorithmisch strukturierte Systeme. Dies führt zu einer epistemischen Umkehrung der Wertlogik:
Nicht mehr der kreative Beitrag legitimiert das System, sondern das System legitimiert den kreativen Beitrag.
Die Idee als Quelle von Differenz – lange die zentrale Ressource der Agenturarbeit – wird ersetzt durch das Verständnis der Plattform als Distributionsmacht, die über Sichtbarkeit, Performanz und schließlich ökonomische Relevanz entscheidet. Damit wird Kreativität selbst zur Ware unter Bedingungen struktureller Fremdbestimmung – ein Instrument in einem Spiel, dessen Regeln anderswo geschrieben werden.
In der qualitativen Analyse wurde deutlich, dass viele Befragte die Marginalisierung kreativer Leistungen nicht nur beobachten, sondern auch sprachlich performieren. Kreativität wurde häufig als „Luxus“, „Zutat“, „ästhetisches Add-on“ oder „Verzögerungseinheit im Produktionsprozess“ beschrieben – Begriffe, die auf eine semantische Dekontextualisierung kreativer Autonomie hinweisen. Die Idee, einst das epistemische Zentrum der Kampagnenarbeit, verliert nicht nur Macht, sondern Bedeutung.
Die Hypothese vom Substanzverlust kreativer Differenzierung wird durch die Daten umfassend bestätigt – jedoch in einer Tiefe, die über eine bloße Bedeutungsverschiebung hinausgeht. Es zeigt sich ein systemischer Bedeutungsverlust kreativer Leistungen, der nicht in ihrer mangelnden Qualität, sondern in ihrer fehlenden Anschlussfähigkeit an algorithmisch gesteuerte Plattformstrukturen begründet liegt.
Kreativität wird damit zur strategisch kontingenten, technisch abhängigen Funktion – nicht als Quelle von Differenz, sondern als Vehikel digitaler Performanzlogik. Sie verliert ihren Platz an der Spitze der Wertschöpfungshierarchie – nicht weil sie wertlos wäre, sondern weil sich der Ort, an dem Wert im Marketing heute entsteht, verschoben hat: Vom semantischen Zentrum der Idee zur technischen Peripherie der Plattform.
(Hypothesen 2 & 3: Verlagerung der Wertschöpfung / Algorithmische Anschlussfähigkeit als Differenzierungsbasis)
Die empirischen Ergebnisse zeigen ein klar konturiertes und in sich kohärentes Kompetenzprofil jener Fähigkeiten, denen Agentur- und Unternehmensentscheider:innen strategische Zukunftsrelevanz zuschreiben. Sie lassen sich nicht mehr entlang klassischer disziplinärer oder inhaltlicher Kategorien ordnen, sondern folgen einer neuen Logik: der logistischen Steuerung von Anschlussfähigkeit innerhalb plattformbasierter Infrastrukturen. Die Differenz zwischen relevanten und irrelevanten Kompetenzen verläuft nicht zwischen Disziplinen, sondern zwischen Systemverstehen und Systemferne.
Die zentrale Achse künftiger Wertschöpfung liegt – so das einhellige Urteil von 74 % der Befragten (Likert 4 oder 5) – im tiefen Verständnis plattformspezifischer Funktionsarchitekturen. Gemeint ist damit nicht das bloße Wissen über einzelne Tools oder Formate, sondern die Fähigkeit, die interne Grammatik digitaler Plattformen zu lesen, vorauszudenken und operativ zu bespielen.
Die Begriffe „API-Nutzung“, „Feed-Optimierung“, „Signalsteuerung“ und „automatisierte Attribution“ wurden in offenen Rückmeldungen nicht als technische Nischenfähigkeiten, sondern als epistemische Grundkompetenzen beschrieben – vergleichbar mit Lese- und Schreibfähigkeit in einer zunehmend automatisierten Wissensökonomie. Wer nicht versteht, wie Systeme Aufmerksamkeit verteilen, verliert die Fähigkeit zur Partizipation.
Besonders auffällig ist dabei die Entstehung eines neuen professionellen Selbstverständnisses: Plattformexpertise wird nicht als Spezialisierung, sondern als grundlegende strukturelle Anschlussbedingung professioneller Relevanz angesehen. Infrastrukturwissen ersetzt klassische Generalistenprofile – nicht, weil es umfassender wäre, sondern weil es systemrelevant ist.
Begriffe wie Predictive Targeting, Real-Time Optimization und AI-basierte Segmentsteuerung verzeichnen durchgängig hohe Relevanzwerte – insbesondere unter Befragten aus performanceorientierten Unternehmensbereichen, aber zunehmend auch aus dem strategischen Management.
Diese Entwicklung steht für eine epistemologische Verschiebung im Marketing: Zielgruppen werden nicht mehr definiert, sie emergieren aus Datenmustern. Planung wird durch Prognose ersetzt, Strategie durch antizipatorische Logik. Das klassische Verständnis von Zielgruppen als semiotische Konstrukte oder demografische Cluster weicht einer operativen Realität, in der Wahrscheinlichkeiten, Scores und Verhaltenserwartungen handlungsleitend werden.
In den qualitativen Aussagen zeigt sich zudem eine diskursive Ablösung von „Verstehen“ zugunsten von „Rechnen“: Marketing wird zur Rechenoperation unter Unsicherheit – wobei Differenzierungsfähigkeit nicht mehr auf besserem Marktverständnis, sondern auf intelligenter Vorwegnahme algorithmisch definierter Zukünfte beruht.
Ein weiterer zentraler Cluster betrifft die zunehmende Relevanz semantischer Strukturierungsleistungen – etwa im Kontext von SEO, taxonomischer Inhaltsarchitektur, strukturierter Datenverwendung und Ontologie-basiertem Content Design. Zentrale Aussagen in offenen Feldern lauteten:
Diese Aussagen markieren einen semiotischen Bruch mit der klassischen Vorstellung, dass Inhalte durch Originalität, Relevanz oder kreative Tiefe wirksam werden. Stattdessen zeigt sich eine neue epistemische Ordnung, in der Inhalte dann relevant sind, wenn sie systemisch lesbar, klassifizierbar und taxonomisch anschlussfähig sind. Bedeutung wird nicht mehr erzeugt, sondern indiziert – über strukturierte Felder, Schema-Markups, Entitätsverknüpfungen und semantische Navigierbarkeit.
Die semantische Qualität eines Inhalts bemisst sich nicht an seiner Tiefe, sondern an seiner Systemkompatibilität – ein Paradigmenwechsel von Inhaltlichkeit zu Informationsarchitektur als Differenzierungsfaktor.
Eine der meistgenannten Kernkompetenzen war die Fähigkeit zur unabhängigen, verlässlichen Attribution. Die Aussage „Wer Attribution nicht beherrscht, verliert die Deutungshoheit“ wurde nicht nur häufig geäußert, sondern markiert einen grundlegenden epistemischen Kipppunkt im Verhältnis von Organisation und Plattform.
Attribution ist in dieser Perspektive nicht länger ein Messproblem, sondern ein Problem kognitiver Souveränität: Wer nicht in der Lage ist, Plattformdaten zu interpretieren, zu kontextualisieren und auf eigene Systemziele rückzubeziehen, bleibt epistemisch abhängig – blind gegenüber der tatsächlichen Wirkkraft seiner Maßnahmen.
Attribution wird so zum epistemischen Gatekeeper strategischer Handlungsfähigkeit: Sie trennt jene Organisationen, die ihre Wirkung konstruieren können, von jenen, die sie lediglich glauben (müssen).
Die Ergebnisse zeigen eine eindeutige Verschiebung: Strategische Differenzierungsfähigkeit im Marketing entsteht nicht mehr aus semantischer Tiefe oder gestalterischer Innovation, sondern aus der Fähigkeit, in systemisch strukturierten Umgebungen sichtbar, anschlussfähig und steuerungsfähig zu bleiben.
Wert entsteht nicht durch inhaltliche Originalität, sondern durch technologische Kontextintelligenz – die Fähigkeit, Systeme zu verstehen, Schnittstellen zu bedienen, und Algorithmen nicht nur zu akzeptieren, sondern aktiv mitzudenken.
Diese Erkenntnis markiert das Ende des Marketings als kreative Ausdrucksform – und den Beginn des Marketings als strukturierte Betriebswissenschaft digitaler Resonanzökonomien.
(Hypothese 4: Dynamic Capabilities als Differenzierungsressource)
Die Frage nach der zukünftigen Rolle von Agenturen wurde im Rahmen der Studie sowohl quantitativ (Likert-Skalen) als auch qualitativ (offene Fragen, diskursive Codierung) behandelt – mit einem bemerkenswert klaren und zugleich radikal ausdifferenzierten Ergebnis: Das klassische Agenturmodell als disziplinär breit aufgestellter Full-Service-Dienstleister wird nicht nur als überholt wahrgenommen, sondern als strukturell dysfunktional.
Lediglich 18 % der Befragten halten das klassische Full-Service-Modell für zukunftsfähig. In der qualitativen Codierung treten dominante Begriffe zutage wie:
Agenturen, die sich weiterhin über ein breites, jedoch disziplinär zergliedertes Leistungsportfolio definieren, gelten in der aktuellen Wahrnehmung nicht als flexibel, sondern als strukturell unbeweglich – unfähig, emergente Anforderungen in Echtzeit zu internalisieren. In einer Welt, in der Veränderung nicht mehr episodisch, sondern systemimmanent ist, wirkt das klassische Agenturmodell wie ein Relikt aus einem Zeitalter stabiler Wertschöpfungsketten.
Demgegenüber erhalten spezialisierte Mikroagenturen, die sich auf spezifische Plattformlogiken, API-Kompetenz, Datenintegration oder algorithmische Steuerung fokussieren, signifikant höhere Zukunftszuschreibungen. Über 60 % der Befragten benannten spezialisierte Agenturformen als relevantestes Modell der nächsten Jahre – besonders in den Feldern:
Diese Mikroagenturen zeichnen sich nicht nur durch technologische Tiefenkompetenz aus, sondern durch eine organisationale Selbststruktur, die radikal auf Lernfähigkeit, Interfacedynamik und Systemresonanz ausgelegt ist. Sie folgen nicht mehr der Idee der Disziplinbeherrschung, sondern der Logik des modularen Reagierens – sie operieren nicht in Kategorien, sondern in Schnittstellen.
Damit vollzieht sich eine tiefgreifende Verschiebung: Agenturen werden nicht mehr nach Disziplinen beurteilt, sondern nach ihrer Fähigkeit, sich permanent selbst rekonfigurieren zu können – entlang sich wandelnder Plattformanforderungen, technologischer Zugriffspunkte und systemischer Feedbackmechanismen.
Parallel zur Fragmentierung des Agenturmarkts zeigt sich ein klarer Trend zur Internalisierung strategiekritischer Marketingfunktionen in Unternehmen selbst. Besonders in den Bereichen:
wurden signifikant gestiegene Inhousing-Tendenzen gemessen. In offenen Antworten formulierten zahlreiche Befragte die These, dass Plattformkompetenz zur internen Infrastruktur werden muss – nicht als zusätzliche Fähigkeit, sondern als grundlegender Bestandteil digitaler Steuerungsfähigkeit. Agenturen werden in dieser Logik nicht abgelöst, aber transformiert: Sie fungieren zunehmend als temporäre, adaptiv aktivierbare Wissensmodule, nicht als langfristige Outsourcingpartner.
Dieser Wandel markiert das Ende eines stabilen Mandatsverständnisses: Agenturen, die weiterhin auf Retainer-Basis mit festen Leistungsclustern arbeiten, verlieren strukturell an Daseinsberechtigung. Zukunftsfähig sind jene Modelle, die prozessuale Offenheit, epistemische Mobilität und technologische Tiefenkompetenz in einer agilen Mikrostruktur verbinden.
Was sich im Rahmen dieser Ergebnisse abzeichnet, ist nicht die Krise einzelner Agenturtypen, sondern ein struktureller Epochenbruch im Selbstverständnis agenturförmiger Organisationen. Die Zukunft gehört nicht den Großen, sondern den Beweglichen. Agenturen der nächsten Generation sind:
Damit wird die Agenturarbeit fundamental neu definiert – nicht durch das, was sie tut, sondern durch das, wo sie andockt, wie schnell sie sich bewegt und wie tief sie Systemlogiken versteht. Strategische Differenz liegt nicht mehr in der Idee, sondern in der Fähigkeit zur organisationalen Selbstveränderung entlang techno-struktureller Brüche.
Die Auswertung der offenen Fragen legt einen Bruch offen, der nicht einfach einen Rollenwandel beschreibt, sondern die Auflösung der bisherigen Ordnung des Marketings markiert. Was sich in den qualitativen Antworten abzeichnet, ist kein evolutionärer Fortschritt, sondern ein Paradigmenwechsel, in dem sich Marketing von einer disziplinär organisierten Ausdrucksform zu einer strukturabhängigen, systemgesteuerten Funktion transformiert.
Frühere Modelle der Agenturarbeit, die auf kreative Exzellenz, strategische Intuition und ganzheitliche Kampagnenlogik setzten, verlieren in dem Maße an Relevanz, wie sich die Steuerungsrealität in Richtung externer, plattformbasierter, algorithmisch gesteuerter Umwelten verschiebt. In einer Welt, in der Relevanz nicht mehr aus Inhalten, sondern aus Anschlussfähigkeit an technische Infrastrukturen entsteht, müssen auch die Akteure neu gedacht werden.
Die qualitativen Daten lassen sich nicht entlang von Berufsbezeichnungen oder Branchenclustern ordnen, sondern zeigen deutlich: Es bilden sich neue, systemische Profile heraus, die jeweils eine spezifische Funktion im Zusammenspiel mit digitalen Resonanzsystemen erfüllen. Diese Profile sind weniger Rollen als vielmehr epistemisch-funktionale Positionen im Spannungsfeld zwischen Steuerung, Bedeutung und Performanz. Sie stehen nicht für bestimmte Tätigkeiten, sondern für Antworten auf die strukturellen Bedingungen eines neuen, datengetriebenen Marketings.
Ein solches neues Verständnis zeigt sich exemplarisch in den Zuschreibungen, die in den offenen Kommentaren wiederkehren: Es ist nicht mehr der „Brand Manager“, der genannt wird, sondern derjenige, der „die Plattform versteht“. Nicht mehr der „Konzepter“, sondern derjenige, der „semantisch sauber strukturiert“. Es wird nicht mehr die „Idee“ als Wertquelle identifiziert, sondern die Fähigkeit, Systeme so zu konfigurieren, dass sie Resonanz erzeugen – algorithmisch, semantisch, verhaltenspsychologisch.
Diese Verschiebung lässt sich in fünf idealtypischen Figuren verdichten – nicht als fest umrissene Berufsrollen, sondern als Modi der Systemresonanz:
Da ist der „System Whisperer“, dessen Wirksamkeit daraus resultiert, dass er algorithmische Logiken nicht nur kennt, sondern spürt. Er bewegt sich nicht in kreativen Räumen, sondern in technischen Interfaces, in denen jede Änderung der API-Spezifikation strategische Relevanz entfalten kann. Seine Leistung besteht nicht in Kommunikation, sondern in präziser Steuerung von Sichtbarkeit durch Systemverständnis.
Im Gegensatz dazu agiert der „Semantic Architect“ nicht mit Datenfeeds, sondern mit Bedeutung – jedoch nicht in einem klassischen Sinn. Er produziert keine Inhalte, sondern ordnet sie taxonomisch, strukturiert sie maschinenlesbar, optimiert sie nicht auf Wirkung, sondern auf Anschlussfähigkeit. Für ihn ist Content keine Botschaft, sondern ein Datenkörper, der in seiner Form strukturelle Sichtbarkeit erzeugt.
Der „Conversion Psychologist“ wiederum arbeitet an der Schwelle zwischen System und Psyche. Seine Kompetenz liegt nicht in der Botschaft, sondern in der Architektur der Entscheidung: in Framing, kognitiver Leichtigkeit, Reaktanzvermeidung. Seine Aufgabe ist nicht Überzeugung, sondern die Konfiguration eines psychologischen Weges durch das System, dessen Ziel der Click ist – nicht durch Idee, sondern durch implizite Führung.
Anders gelagert, aber systemisch verwandt ist der „Brand-as-System-Integrator“, der klassische Markenführung transzendiert. Er begreift Marke nicht als Narrativ, sondern als konsistentes Interface über fragmentierte Plattformwelten hinweg. Seine Aufgabe ist es, Kohärenz nicht über Vereinheitlichung zu erzeugen, sondern durch resonanzfähige Varianz, gesteuert entlang der jeweiligen Plattformlogik. Er denkt nicht in Zielgruppen, sondern in Plattformökosystemen.
Und schließlich der „Ops-as-a-Service-Enabler“, dessen Arbeit in ihrer Unsichtbarkeit zur eigentlichen Bedingung jeder Sichtbarkeit wird. Er ist kein Denker, kein Designer, kein Planer – und doch ohne ihn nichts: Er sorgt dafür, dass alles funktioniert. Seine Arbeit besteht in der Orchestrierung friktionsfreier Exekution, in der Absicherung von Geschwindigkeit, Skalierbarkeit und Prozesslogik. Er stellt sicher, dass das, was gedacht wird, auch technisch umsetzbar, skalierbar und vernetzt ist.
Diese fünf Figuren sind keine alternativen Jobbeschreibungen. Sie sind Ausdruck einer neuen Ontologie des Marketings: einer Ontologie, in der der Wert nicht mehr aus Inhalten, Botschaften oder Beziehungen entsteht, sondern aus der Fähigkeit, unter Bedingungen permanenter Fremdsteuerung strukturelle Resonanz herzustellen. Marketing wird zur Wissenschaft der Anschlussfähigkeit – und die Akteure zu Systemarbeitern in einer neuen, datenstrukturierten Kommunikationswirklichkeit.
Dabei ist zentral: Diese Typen sind keine isolierten Profile, sondern Funktionen eines neuen kollektiven Produktionsmodells. Sie müssen komplementär gedacht werden, als Module innerhalb hochadaptiver Teams. Die Zukunft des Marketings besteht nicht in der Suche nach der „richtigen Rolle“, sondern in der Fähigkeit von Organisationen, diese Rollen zu erkennen, zu integrieren, adaptiv zu aktivieren – und wieder loszulassen, sobald sich die Systemumgebung verändert.
Die empirischen Ergebnisse dieser Studie markieren keinen linearen Wandel, sondern einen qualitativen Bruch im Selbstverständnis des Marketings. Was sich abzeichnet, ist kein neues Toolset, sondern eine neue Episteme – eine neue Art zu wissen, zu arbeiten und zu wirken. Die klassischen Koordinaten – Kreativität, Zielgruppe, Markenidee, Mediaplan – verlieren an Erklärungskraft, weil sie nicht mehr dort anschließen, wo heute Wirkung entsteht: in der Struktur, nicht in der Aussage.
Marketing wird künftig weniger darüber definiert sein, was es produziert, sondern wie es strukturell verankert ist. Es geht nicht mehr primär um Inhalte, sondern um Infrastrukturen der Sichtbarkeit, semantische Lesbarkeit, psychologische Reibungslosigkeit und technische Anschlussfähigkeit. In dieser neuen Welt bedeutet Exzellenz nicht mehr Exekution, sondern Interface-Kompetenz: Wer Systeme lesen, antizipieren und adaptiv bespielen kann, wird zur neuen Steuerungsinstanz. Wer hingegen weiter an der Oberfläche der Kommunikation verharrt, verliert.
Für klassische Agenturen stellt dieser Wandel eine ontologische Herausforderung dar. Ihre Geschäftsmodelle sind häufig auf Kontinuität, auf stabile Budgets, auf wiedererkennbare Rollenprofile ausgelegt – und auf eine kreative Logik, die heute zunehmend unter systemischem Vorbehalt steht. Die von uns erhobenen Daten zeigen: Die Full-Service-Agentur als Disziplin-Cluster verliert nicht, weil sie weniger gut arbeitet, sondern weil sie strukturell nicht mehr an die Relevanzlogiken digitaler Systeme anschließt.
Doch gerade darin liegt auch eine Chance: Klassische Agenturen könnten sich – wenn sie den Bruch als solchen anerkennen – neu erfinden. Nicht als kreative Dienstleister, sondern als Resonanzarchitekten, als systemische Vermittler zwischen technischer Struktur und ökonomischer Bedeutung. Dafür müssten sie allerdings ihre alten Selbstbilder aufgeben und sich von der Vorstellung lösen, dass kreative Leistung per se strategisch sei. Sie müssten lernen, in System-Interfaces, Datenflüssen, Adaptionszyklen und Echtzeitfeedbacks zu denken. Sie müssten aufhören, Identität aus Disziplinen zu ziehen – und anfangen, sie aus struktureller Wirksamkeit zu beziehen.
Die Alternative zum schleichenden Bedeutungsverlust liegt in einer Reprofessionalisierung, die nicht Rückbesinnung meint, sondern neue epistemische Tiefe. Der Wert professioneller Marketingarbeit der Zukunft wird sich aus der Fähigkeit ergeben, Komplexität nicht zu vereinfachen, sondern verstehbar zu machen – in technischen, psychologischen, semantischen und organisationalen Systemen.
Diese Reprofessionalisierung bedeutet auch eine Neudefinition des Könnens: nicht mehr der Ideenentwickler oder Texter, sondern der semantisch-strategische Architekt, der interdisziplinäre Systemarbeiter, der übersetzungsfähige Resonanzexperte. Wer diese neuen Rollen annimmt, entwickelt das Marketing nicht weiter – sondern neu.
Doch der Preis dieser Transformation ist hoch. Denn sie bedeutet auch den Verlust vertrauter Identitäten. Wenn kreative Autonomie durch Plattformkompatibilität ersetzt wird, wenn Empathie durch Predictive Modeling, wenn langfristige Markenbildung durch Micro-Conversion, dann droht eine kulturelle Entfremdung zwischen Marketing und Konsument:innen – und nicht zuletzt zwischen den Professionellen und ihrem Beruf.
Die Gefahr ist real, dass das Marketing seine gesellschaftliche Anschlussfähigkeit verliert, weil es sich selbst nur noch als technisches Steuerungssystem versteht. Der Mensch als sinnstiftender Referenzpunkt könnte dabei aus dem Fokus geraten – ebenso wie das Narrative, das Ambivalente, das Emotional-Unverfügbare. Diese Gefahr ist keine Nebenwirkung, sondern ein systemisches Risiko: Wenn Marketing nur noch operational denkt, verliert es seine Fähigkeit zur Bedeutungsarbeit – und damit seine Anschlussfähigkeit an die Kultur.
Ebenso droht ein Talentverlust, insbesondere bei jungen Kreativen, die das Marketing nicht mehr als Raum schöpferischer Selbstwirksamkeit erleben, sondern als feldoptimierte Maschinenlogik. Ohne Re-Romantisierung, ohne kulturelle Tiefe, ohne das Recht auf semantische Mehrdeutigkeit wird das Marketing nicht nur schlechter, sondern seelenlos.
Die Zukunft des Marketings liegt nicht in Tools, sondern in Transformationskompetenz. Sie liegt nicht im Verzicht auf Kreativität, sondern in ihrer strategischen Rekontextualisierung. Und sie liegt nicht in der Reproduktion bestehender Modelle, sondern in ihrer radikalen Neuausrichtung entlang systemischer Wirksamkeit.
Agenturen, Unternehmen und Ausbildungen müssen begreifen: Marketing ist keine Disziplin mehr. Es ist eine Vermittlungsleistung zwischen Systemen, Bedeutungen, Verhaltensökonomien und Infrastrukturen – nicht aus dem Bauch heraus, sondern auf Basis von Plattformintelligenz, Datenarchitektur und psychologischer Resonanz. Wer das versteht, hat Zukunft. Wer nicht – wird zum Dienstleister eines Systems, das ihn längst ersetzt hat.
Was früher als „Marketing“ bezeichnet wurde – verstanden als kommunikative Disziplin zur Vermittlung von Markenwerten, Angeboten und Positionierungen – ist in seiner alten Funktionslogik obsolet geworden. Unternehmen, die dieses Konzept weiterhin als funktionales Add-on zur Wertschöpfung verstehen, operieren in einer Begriffsarchitektur, die nicht mehr realitätsfähig ist.
Im Zeitalter algorithmisch konfigurierter Kommunikationsräume ist Marketing keine Disziplin mehr, sondern eine strukturgebundene Infrastrukturfunktion – vergleichbar eher mit Datenarchitektur, Logistik oder Netzwerksicherheit als mit Werbung, Design oder Markenbildung. Sichtbarkeit ist heute nicht mehr Resultat gelungener Kommunikation, sondern Ergebnis anschlussfähiger Codierung an Plattformarchitekturen, die nicht interpretieren, sondern strukturieren.
Marketing wird damit zur operativen Ontologie des Unternehmens: Es entscheidet, ob das Unternehmen als semantisch lesbare, technisch erfassbare, psychologisch anschlussfähige Einheit überhaupt noch existiert – in den Datenströmen der Gegenwart. Wo früher Kommunikation gestaltete, entscheidet heute Infrastruktur über Resonanz.
Die klassische Vorstellung, dass ein Unternehmen durch strategisch geplante Kommunikation Relevanz „erzeugen“ könne, ist nicht mehr haltbar. Relevanz ist kein sendungsbasierter Erfolgsindikator, sondern ein rückgekoppelter Systemwert, der sich aus der Interaktion von Plattformmechanik, Nutzerverhalten und Content-Logik emergent ergibt. Unternehmen, die glauben, mit Markenwerten, Corporate Language oder Zielgruppenmodellen sichtbar zu bleiben, verwechseln semantische Innenlogik mit externer Systemlogik.
In Plattformökonomien entsteht Relevanz nicht durch Absicht, sondern durch technische Anschlussfähigkeit an den Resonanzraum der Plattformlogik. Sie ist das Ergebnis einer präzisen Kodierung entlang maschinenlesbarer Strukturen (API, SEO, Signalstruktur), psychologischer Wahrscheinlichkeit (CRO, UX, Microframing) und sozialer Kontextualisierbarkeit (Algorithmic Affordance). Wer diese Dynamiken nicht steuert, existiert nur noch in seinen eigenen Präsentationen – nicht aber in der Wahrnehmungsrealität des Marktes.
Marketing wird damit zum zentralen Interface zwischen Unternehmen und Welt. Es entscheidet nicht mehr, was kommuniziert wird, sondern ob überhaupt etwas stattfindet – und ob dieses Stattfinden strukturell so gebaut ist, dass es Reaktion, Rückmeldung, Engagement oder überhaupt semantische Existenz erzeugen kann.
Diese Entwicklung darf nicht auf der Ebene von Tools, Tools, KPIs oder Agenturbriefings bearbeitet werden. Sie ist strukturell, kognitiv tiefgreifend und existenzielle Unternehmenspolitik. Marketing ist keine Stabsstelle mehr – es ist das symbolisch-technologische Betriebssystem der Organisation.
Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht die Performanz eines Bereichs, sondern die Realisierbarkeit der Organisation im digitalen Raum. Wer Marketing weiterhin als operative Funktion behandelt, vergibt nicht nur Chancen, sondern gefährdet seine Anschlussfähigkeit an den Markt – und damit seine Daseinsberechtigung.
C-Level-Verantwortung bedeutet in diesem Kontext: Marketing nicht mehr als Gestaltung, sondern als Infrastrukturarbeit an der eigenen Sichtbarkeit und Systemresonanz zu begreifen. Es bedeutet, die eigenen Geschäftsprozesse so umzubauen, dass sie nicht nur effizient, sondern lesbar, anschlussfähig und permanent rekonfigurierbar sind – für Maschinen, für Plattformen, für Menschen in digitalisierten Erfahrungsräumen.
Das Unternehmen muss nicht mehr nur sprechen können – es muss strukturell anschlussfähig gebaut sein.
Die kommende Dekade wird nicht vom Wettbewerb der besten Produkte oder der kreativsten Ideen geprägt sein. Sie wird ein Wettbewerb der technisch-semantisch-psychologischen Anschlussfähigkeit. Wer diese Anschlussfähigkeit nicht systematisch baut, pflegt und erweitert, verliert nicht Umsatz – sondern Wirklichkeit. Und zwar nicht als abstraktes Risiko, sondern als operative Realität: als Unsichtbarkeit im Feed, als Irrelevanz in Suchsystemen, als Inkompatibilität in Nutzerpfaden.
Unternehmen, die den Marketingbegriff nicht grundlegend transformieren, werden zu Inseln in einer Welt, die längst über sie hinweg programmiert wurde. Die zentrale strategische Fähigkeit der Zukunft wird daher nicht Marketing im alten Sinn sein – sondern Marketing als Systemintelligenz: die Fähigkeit, in fragmentierten, sich permanent wandelnden digitalen Umwelten kohärent, anschlussfähig und steuerungsfähig zu bleiben.
Und jene Organisationen, die das nicht begreifen, werden – mit aller Professionalität, mit aller Exzellenz, mit aller Innovationsfreude – perfekt aufgestellt sein. Für eine Welt, die es nicht mehr gibt.